Als klinischer und Gesundheitspsychologe mit mehreren Jahren Erfahrung im Bereich der Schulprobleme, wie Legasthenie (Lese-Rechtschreibschwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche) und ADS/ADHS (Konzentrationsprobleme), habe ich immer wieder mit verschiedenen Herausforderungen im Lernbereich zu tun.
Ein Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). Diese Störung betrifft das Hören, obwohl das Ohr selbst gesundheitlich unauffällig ist. Trotz der steigenden Bekanntheit von AVWS ist sie immer noch nicht weit genug verbreitet und verstanden. Es freut mich, dass sie zunehmend Beachtung findet, doch es gibt auch Kritik, dass es sich um eine „Modediagnose“ handeln könnte.
Ich bin jedoch der Ansicht, dass AVWS keineswegs eine Modediagnose ist, sondern vielmehr eine wertvolle Erweiterung des diagnostischen Blicks auf Lernprobleme. Doch wie bei jeder anderen Diagnose auch, muss genauer hingeschaut werden. Nicht jedes Lernproblem ist automatisch AVWS, genauso wenig wie nicht jedes Schreibproblem Legasthenie ist. Eine differenzierte und ganzheitliche Betrachtung der Symptome ist unerlässlich, um die wahre Ursache herauszufinden.
Teilleistungsstörungen, zu denen auch AVWS gehört, können signifikante Auswirkungen auf das Lernen haben. Wenn ich in meiner Arbeit eine Teilleistungsstörung entdecke, weiß ich durch die Differenzierung genau, wo der Bedarf an Unterstützung liegt und wer am besten helfen kann.
Bei AVWS ist dies besonders wichtig, da sie häufig als Ursache für Legasthenie identifiziert wird. Allerdings ist die Ausprägung von AVWS unterschiedlich, und nicht alle Kinder mit dieser Störung haben die gleichen Herausforderungen.
Wichtig zu wissen ist, dass trotz medizinischer Kontrolle organische Ursachen für AVWS bestehen können. Ein Beispiel hierfür sind Polypen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, die das Trommelfell in der Arbeit beeinträchtigen und so eine reduzierte Hörwahrnehmung verursachen können. Ein Arzt oder eine Ärztin könnte dies möglicherweise festgestellt haben, doch oft wird den Eltern die Relevanz für den Alltag nicht ausreichend erklärt. Häufig lautet die Empfehlung, eine Operation durchzuführen, woraufhin sich viele Eltern dagegen entscheiden. In solchen Fällen erscheinen die Symptome dann oft als AVWS, obwohl sie eine andere und zwar medizinische Ursache haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass AVWS keine Modediagnose ist. Vielmehr erweitert sie den diagnostischen Horizont und ermöglicht eine genauere Identifizierung von Ursachen bei Lernproblemen. Besonders bei Legasthenie und ähnlichen Störungen ist es ein Fortschritt, wenn AVWS als mögliche Ursache erkannt und entsprechend behandelt wird. Ein differenzierter Blick und eine präzise Diagnose sind entscheidend, um den betroffenen Kindern bestmöglich zu helfen.